Da Mui Hiasl
und das Jahr von Tschernobyl

“Du hast das Essen vor dir und darfst es nicht essen weil es dein Tod ist . . ." Die tödlichen Atomstrahlen erwecken einen Toten zum Leben - ein zwingender Beweis für das Zweite Gesicht des Sepp Wudy

So sehr uns die Katastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986 überrascht und aufgeschreckt hat, zumal wir vom Atomregen in die Atomtraufe gerieten, so groß, ja unendlich viel größer ist die ,,Chance" von Tschernobyl, von der auch Bundespräsident Richard von Weizäcker sprach. Dieser ungewollte Warnschuß des Schicksals oder der Vorsehung gibt uns tatsächlich die Chance zu lernen, nicht bloß “innezuhalten", wie Weizäcker sagte. Wir können der allmächtigen Güte, dem Schöpfer und Erhalter der Welt, nur danken; denn dieses Reaktorunglück hat uns plötzlich in unserem Größenwahn , von menschlichem Fortschritt ins Bewußtsein gerückt, daß der Mensch in seinem berechtigen Streben nach Sicherheit und Perfektion nicht gewissenhaft genug sein kann. Es verbleibt immer ein Restrisiko, ein Quantum an Unkontrollierbarkeit, das sich dem menschlichen Zugriff einfach immer wieder erfolgreich entzieht. Die zweite Chance: so traurig die Todesbilanz auch für die Ukrainer sein mag, für uns ist es ein glücklicher Zufall, daß wir “nur am Rande" betroffen sind.,, “Wir sind noch einmal davongekommen”, auch wenn noch so viel Grün ungenießbar, zu Gift wurde und ein Riesenschaden selbst ,,am Rande" noch entstand. Aber gerade weil wir noch einmal davon gekommen sind, können wir uns jetzt jene apokalyptische Vision vor Augen stellen und ausmalen, die unter dem Namen ,,China Syndrom" umgeht, jenes Schreckgespenst vom durchschmelzenden Reaktorkern, der sich durch die Erdkruste hindurchfrißt und schließlich auf der anderen Seite des Globus, eben in China, wieder hervortritt. Diese erste und zweite Chance miteinander verknüpft, ergibt in der Tat die Frage: “Sind, obwohl sie den gleichen physikalischen Gesetzen gehorchen, sowjetische Leistungsreaktoren anders als die im Westen? Die Antwort lautet: Ja, leider. Der Kraftwerkblock von Tschernobyl besitzt nämlich keine meterdicke Betonkuppel, die etwa bei einem deutschen Kernkraftwerk den Reaktorkern von der Umwelt trennt und damit ein Durchschmelzen verhütet. Im Allgemeinen konzentrieren sich sowjetische Sicherheitsvorkehrungen auf die Verhinderung des “GAU”, des Großen Anzunehmenden Unfalls”, während westliche Systeme so konstruiert sind, daß sie einen solchen GAU nicht bloß verhindern, sondern zusätzlich auch noch beherrschen können. Welch einen Ironie der Weltgeschichte, daß der Name, das russische Wort “Tschernobyl” auf deutsch “Beifuß” heißt und jene Würzpflanze (Artemisia vulgaris) meint, die dort ganz wild wächst und die wir zum Würzen von Braten benutzen. Und dieses “Tschernobyl”, das die Menschen geschaffen, tötet(e) so viele Menschen, machte unseren Salat und unser Gras und Grün mit seinen tödlichen Strahlungen ungenießbar, vergiftete so viel Lebensmittel! Aber noch sind wir davongekommen! Und von einem Tag auf den anderen sehen wir die Wirklichkeit jetzt mit anderen Augen, mit den Augen längst verstorbener Hellseher, denen ihre Zeitgenossen wenig Glauben schenken konnten, die sie für “spinnert” ansahen. Seit diesem Samstag, den 26. April 1986, begreifen wir plötzlich, was der Bauernknecht Sepp Wudy vom Frischwinkel schon vor dem ersten Weltkrieg, zwischen 1910 und 1914, meinte, als er und kein Mensch etwas von diesen Todesstrahlen wußte und ahnte. Die tödliche Atomstrahlen von Tschernobyl erwecken diesen Toten zum Leben und erinnern an das große “Bänkabräumen” von dem der Muihiasl sprach; denn dieser Sepp Wudy erklärte
schon vor dem ersten Weltkrieg: “Du hast das Essen vor dir und darfst es nicht essen, weil es dein Tod ist und du hast das Wasser im Grandl und darfst es nicht trinken, weil es auch den Tod ist”. Ebenso könne wir uns jetzt vorstellen, war unser unsterblicher “Muihiasl” von Apoig bei Hunderdorf/Steinburg mit dem Wort ,,,,Bänkabräumen” meinte. Nur allzugut verstehen ,wir jetzt nach Tschernobyl die Klage des Sepp Wudy: ,,Sehen tät ich noch mehr, aber ich kann es nicht begreifen und nicht sagen". Hätten wir doch selbst, als wir letztes Jahr unseren Spinat, Schnittlauch und Salat aßen, nie geglaubt oder daran gedacht, daß unser Gemüse heuer mit Todesstrahlen gewürzt sein könnte. Übrigens hat der Wudy Sepp seinen eigenen Tod vorausgesehen. ,,Wie der Sepp (zum Ersten Weltkrieg) hat einrücken müssen, hat er gesagt, er kommt nicht wieder, weil er in Eis und Schnee sterben muß". Und der fiel tatsächlich dann in den Dolomiten. Daß dieser schweigsame Bauernknecht tatsächlich das Zweite Gesicht hatte, können wir heute gewiß nicht mehr bestreiten. Er konnte und wollte selbst nicht glauben, was er in der Zukunft kommen sah.

Am 15. Mai 1986 lasen wir in den Zeitungen die Schlagzeilen:
130 km von Tschernobyl - Menschen fallen die Haare aus

,,Die Luft frißt sich in die Haut wie ein Gift" wahrsagte Wudy. “Leg alles an, was du an Gewand hast, und laß nicht das Nasenspitzl herausschauen Setz dich in ein Loch und wart, bis alles vorbei ist, lang dauert's nicht, oder such dir eine Höhle am Berg. Wenn dir die Haare ausfallen, hat es dich erwischt. Nimm ein Kronwittbirl in den Mund, das hilft, und sauf keine Milch, acht Wochen lang. Wenn kein Uhmanndl mehr schreit und die Hasen zum Haus kommen und umfallen, dann geh weg vom Wasser und mähe kein Gras". Was an den Zukunftsgeschichten des Bauernknechts auf den ersten Blick in der Tat besticht, ist seine Voraussage des Fernsehens und des Überschallflugverkehrs. Wie sagte er zu seinem Bauern, der die Wahrsagen Wudys in seinen Kalender schrieb: ,,Wenn du es erleben tätest, könntest denen Vetter in Wien von deiner Stube aus sehen, und wenn du ihn schnell brauchatst (bräuchtest), könnte er in einer Stunde da sein. Der Böhmerwald wird einmal versengt werden wie ein Strohschübel. Rennt nicht davon, wenn die grauen Vögel fliegen; wo anders wird es noch schlechter sein. Es geht dem End zu, und das hat schon angefangen. Es wird dann wieder sein, wie vor hundert Jahren. So wird es die Leut zurückwerfen, und so werden sie für ihren Übermut bestraft. Ich versteh auch die Leut nicht, daß sie gar keinen Herein haben, und sie werden allerweil schlimmer und gottloser, so daß es so kommen muß, und wie gesagt, es wird wieder sein wie vor hundert Jahren. Mit dem Glauben geht es bergab, und alles wird verdreht. Kennt sich niemand mehr aus. Die Oberen glauben schon gar nichts mehr, die kleinen Leut werden irre gemacht. In der Kirche spielen sie Tanzmusik, und der Pfarrer singt mit. Dann tanzen sie auch noch, aber draußen wird das Himmelszeichen stehen, das den Anfang vom großen Unheil ankündigt. Es steht gegen Norden ein Schein, wie ihn noch niemand gesehen hat, und dann wird ringsum das Feuer aufgehen. Geh nach Bayern, dort hält die Muttergottes ihren Mantel über die Leut, aber auch dort wird alles drunter und drüber gehen. Es wird alles kommen, wie es der Mühlhiasl gesagt hat, aber er hat nicht alles gesagt, oder sie haben ihn nicht verstanden. Denn es kommt viel schlimmer. Dann gibt es keine Grenze mehr gegen Bayern, aber wo du dann bist, kann ich nicht sagen". Soviel über und von Sepp Wudy, dessen zweites Gesicht gerade durch Tschernobyl als unbestreitbar echt wir jetzt erkennen können. Das ist unsere Chance, wenn wir sie nutzen und daraus lernen, unsere Wirklichkeit mit anderen Augen zu sehen.

(Dr. Rupert Sigl)