Großvaters Erzählungen

Die Beschäftigung mit der Vergangenheit ist ein erregendes Erlebnis. Die Gegenwart ist schnellebig. Nur wenig von dem bleibt in der Erinnerung haften, was unsere Großväter vor sechzig, achtzig, hundert Jahren bewegt, wie sie gelebt und gearbeitet haben. Wir wollen daher etwas zurückblättern, und uns erzählen lassen von den Großvätern. Die Zeit war im schönen Gleichmaß. Nichts störte die Ruhe. Die Großväter prägten ihre Zeit, die man "die gute alte Zeit" nannte. Der Dreiklang eines bayerischen Dorfes mit Kirche, Schule, Wirtshaus stand felsenfest im Rhythmus jener Tage, die vom gemächlichen Pferdetrott auf staubiger Straße und nicht vom Auto und vom Tempo bestimmt waren. Die Schuster, Sattler, Schneider, und Gläser kamen alljährlich einmal zum Bauern auf die "Stör". Der Geißbock beim Gemeindehirten ärgerte mit seiner penetranten Ausstrahlung die gesamte Nachbarschaft, in der Schmiedbruck roch es nach verbrannten Roßhufen, und die überquellenden Odelgruben und Mistlachen suchten sich entlang der Dorfstraße ihre Rinnsale in Richtung Bach. Die Schnupfer, deren es gar viele gab, bereiteten ihren "Schmai" in einem irdenen Topf selbst zu, indem sie ihn durch Beigabe von Rindsschmalz mit einem Riegel aus Apfelholz zu Pulver zerrieben. Der rhythmische Binderschlag klang im Dreivierteltakt melodisch über die Dorfgasse. Der Josef hat noch "Sepperl" oder "Sepp" und der Georg "Girgl" oder "Schos" geheißen. Die Mutter vertrieb die Schrunden an den Füßen der Buben und Mädchen, Bamhackl genannt, dadurch, daß sie mit weicher Hand Schweineschmalz darüberstrich. Die theaterbesessene Jugend spielte das Lustspiel "Die Junggesellensteuer". Das Gasthaus Dietl war brechend voll, und die Zuschauer entleerten gerührt ihre Tränendrüsen. Die Schwerpunkte der Erholsamkeit lagen in fröhlicher Geselligkeit, die am heimischen Stammtisch eifrig gepflegt wurde, getreu dem Motto: "Im Himmel gibt’s kein Bier - drum trinken wir es hier". Georg Lohmeier hat der großväterlichen Zeit im Königlich-Bayerischen Amtsgericht ein schönes Denkmal gesetzt, indem er sagt: "Die gute alte Zeit, als wir in Bayern noch einen König gehabt haben, das war eine liebe Zeit. In Bayern gleich gar. Damals hat seine Königliche Hoheit, der Herr Prinzregent regiert, denn der König war schwermütig. Das Bier war dunkel und die Menschen typisch, die Burschen schneidig, die DeandIn sittsam und die Honoratioren ein bisserl vornehm und ein bisserl leger". Alles war anders, als die Großväter noch das Sagen hatten. Das Ortsbild beherrschte zwar schon immer die weithin sichtbare Pfarrkirche, aber auch die niederen geduckten Bauernhäuser entlang der Dorfstraßen mit einem massiven, um zwei Seiten herum führenden "Schrout" sprangen sofort ins Auge, und waren genüßlich anzusehen. Fein gedrechselte Stützen reichten hinauf bis zum weit vorspringenden Überdach. Größere Bauernhäuser wiesen gar eine zweite Schroutetage auf. Auf ihr thronten die aus Roggenstroh luftdicht geflochtenen Impenkörbe, und die Bienen stopften sie mit süßem Honig voll. Der Fortschritt - auch immer ein Schritt fort von den schönen Dingen früherer Tage, von idyllischer Wohnbehaglichkeit, vom friedvollen Heimgarten, oder von einem lustigen Wirtshausstammtisch, von allem eben, was das Leben einst lebenswert machte. Doch lassen wir die Großväter selbst zu Worte kommen: Der Frühgottesdienst am Sonntag begann bereits um 6 Uhr. Mit Sturmlaternen pilgerten die Gläubigen aus allen Richtungen zur Kirche, damit sie den Weg finden und den Dreckpfützen ausweichen konnten. Fing es zu regnen an, so stülpten sich die Frauen den Überrock über den Kopf. Ein Parasol kannte noch niemand. Das "Ojawei" (Eierweib) schob einen ausgedienten Kinderwagen von Hof zu Hof um Eier und Schmalz aufzukaufen, und der "Broudmo" (Brotmann) fuhr mit seinem dürren Häuter Brot und frische Semmeln aus. Mußte der Großvater schreiben, was er nicht gerne tat, so kratzte es auf dem Papier wie ein Reibeisen, und lustige Kleckse begleiteten seinen Schriftzug. War das Schreiben endlich fertig, holte er aus der Scheide in der hinteren Hosentasche das feststehende Messer heraus, schabte damit etwas Kalk von der Küchenwand, und ließ diesen auf das Dokument rieseln, damit die Tinte schneller eintrockne. Der Schmuser war begierig, die reichen Bauerntöchter als Hochzeiterinnen in die großen Höfe zu vermitteln, denn das "Schmusgeld", das dabei herauskam, war nicht zu verachten. Es kam auch vor, daß sich der Schmuser später nicht mehr auf den Hofe traute, weil er dem jungen Bauern eine "Bißgurn" angedreht und damit Unfrieden in die Familie gebracht hatte. Stammtischfreundschaften wurden begründet, gepflegt, und immer wieder neu bekräftigt. Auch dem Kartenspiel frönte man eifrig. Es gab das Schafkopfen, Watten.  Wallachen, den Tarock, das Lampeln, Zwicken, Handeln, Batzenlippeln, Moriatschen, Grasoberln und Bieraushandeln. Nur wenige dieser Spiele sind auch heute noch geläufig. Die Wirtshauskegelbahn war vorzugsweise das Betätigungsfeld für die Jüngeren. Die Frauen und Mädchen wurden im Wirtshaus nicht geduldet. Das war Männersache. Sie hatten das Haus zu besorgen und die Kinder zu beaufsichtigen. Ein geflügeltes Wort ging um: "D'weiba und Katzn ghern zum Haus". Um die Kinder machte man nicht viel Aufhebens. Es gab die seit Generationen benützte handgemalte Wiege, die mitten in der Stube stand, und dann wenn sie nicht mehr gebraucht wurde, bis zur Geburt der nächsten Generation, wieder auf dem Speicher harrt. Gingen die Eltern mit den Kindern zu Verwandten, so wechselten sie einander mit dem für die Kleinen hilfreichen "Buglkratzntrogn" ab. Es bedurfte keines weichgefederten Kinderwagens, höchstens ein HeuwagerI diente zur Beförderung, wobei die Schwächsten aufsitzen durften. Auch das Schneuztüchl war entbehrlich. Wenn die Nase tropfte, wischte der Girgl mit dem Rockärmel kurz daran vorbei, und schon war die Reinigung vollzogen. Das hatte zur Folge, daß im Laufe von Monaten auf dem Rockärmel ein handtellergroßer blinkender Spiegel entstand, der seinem Träger zusammen mit der tropfenden Nase den Namen "Rotzglockn" einbrachte. Weil es noch keinen Sport gab, gingen andere begehrte Spiele reihum. Sie waren jahreszeitlich beeinflußt. Im Auswärts holte man als erstes die "Schusser" hervor. Bald folgten die "Weidenpfeiferl", die ""Hollerbüchse",", "Pfeil und Bogen", und das "Peterskopfdrehen". Ein beliebtes Gesellschaftsspiel im Frühjahr stellte das "Platlln" dar, dem auch noch die reifere Dorffugend eifrig nachging. Im Sommer schließlich bevorzugte man Spiele über größere Räume, so vor allem "Räuber und Schandi", oder das zwanglose Herumstreunen in Wald und Flur. Auch das "Fuchs und Hui", das "Geierfangen" und "Häuslspringen" hatte seine Anhänger. Die Herbstmonate über mußte das "Schinkenpatschen" oder die "blinde Kuh" herhalten. Der Winter brachte mit dem Schlittenfahren übern Hausberg und dem Eisstockschießen eitel Freude bei der Kinderschar. Viele der genannten Spiele kennt heute niemand mehr. So wie die moderne, wissenschaftlich erforschte Freizeitgestaltung unser gegenwärtiges Leben beeinflußt, so haben die Spiele der alten Zeit die Kinder geprägt und sie zu aufgeweckten fröhlichen und gewandten Menschen werden lassen. Bei Festlichkeiten mit einem Zylinder zu erscheinen, galt als das Vorrecht der Privilegierten. Erst später kam der Koks. Die Bauern und Geschäftsleute, die Bürgerlichen also, trugen breitkrempige Hüte, die Handwerksgesellen, Lehrbuben und Dienstboten bauten sich meist die buntgestreifte Schlägermütze auf das linke Ohr. Um Feste zu feiern fand sich immer ein Anlaß! Auf Weisung des Bürgermeisters waltete der Ortsgendarm, zugleich Gemeinde- diener, seines verantwortungsvollen Amtes, und sorgte für Zucht und Ordnung. Um seine Aufgabe vollziehen zu können, bedurfte er des Tragens einer standesgemäßen Polizeiuniform. Zu ihr gehörte ein langer blauer Dienstrock mit roten Aufschlägen an Brust und Ärmel, eine schwarze Hose und hohe Schaftstiefel. Die unifarbene Dienstmütze verschönte eine weißblaue Kokarde. Das Attribut der Amtsgewalt demonstrierte in ganz auffälliger Weise der lange Krummsäbel, der in einer ledernen Scheide steckte und drohend an der linken Körperseite baumelte. Der düstere Gesichtsausdruck legte Zeugnis ab von der Wichtigkeit seiner Funktion. Er sperrte die Spitzbuben in das Arrestlokal beim Feuerhaus, sorgte in den Gasthäusern für Ordnung, schlichtete Raufereien, trieb Steuern ein, und führte säumige Schüler der Behörde vor. Am Sonntag verschaffte er sich mit einer großen Handglocke auf dem Kirchplatz Gehör und tat dem des Lesens und Schreibens nicht mächtigem Volke, das da aus der Kirche strömte, "kund und zu wissen, daß am Montag die Impfung der Kleinkinder und Schüler, am Mittwoch eine Gemeindemitglieder- versammlung, am Freitag der letzte Termin für die Einzahlung der Gemeindesteuern sei" Die zahlreichen Gaffer hörten die Bekanntmachungen belustigt oder auch schimpfend an. Beim Gottesdienst fungierte er als Kirchenwächter. Er saß dazu auf einem gesonderten Platz auf der Empore, um alle Vorgänge innen- und außerhalb der Kirche beobachten zu können. So ein Ortsgendarm war schon eine schier unentbehrliche lnstitution. Den Nachtwächter hatte er ebenfalls scharf im Auge, damit dieser ungesäumt alle seine Pflichten erfülle. Bei Fronleichnamsprozessionen ging er gemessenen Schrittes neben der Kolonne her und beobachtete die Buben, ob sie auch richtig beten. Wenn dann der Geistliche bei den Evangelistationen seinen Segen gab, kommmandierte er mit donnernder Feldwebelstimme "Nieda- knian", und alle, ob groß oder klein, fielen sie wie vom Donner gerührt, in den Staub. Vom Feuerhause her donnerten aus der großkalibrigen Salutkanone mit dem überdimensionalen Schalltrichter gleichzeitig drei Schüsse. Die Buben hatten immer ein wenig Angst vor dem Ortsgendarm, weil er so achtungsge- bietend die Obrigkeit verkörperte. Heiß ging es bei Hochzeiten und festlichen Bällen her. Die Blasmusik spielte Rheinländer und Schottisch, Wienerwalzer, böhmische Polka, polnische Mazurka, und preußische Märsche. Auch eine ganze Reihe echter "Boarischer" waren da zu hören, das Hirtamadl, der Kikeriki, der Zipfe Adam, der Boarische Miche, der Steirer, der Dreher, der Eichlober, der Saulocker, das Eisenkeilnest, und der Wintergrea. Die Tanzenden begaben sich bei Pausen der Musik nicht an ihre Tische, sondern sie gingen paarweise im Kreise weiter bis zum nächsten Einsatz - um ja nichts zu versäumen. Die Partnerinnen wechselten dabei von Hand zu Hand, indem der Kavalier mit einer angedeuteten Geste an den männlichen Partner forderte, daß jetzt er dran sei. Das Glucken trieb die Großmutter den Hennen mit einem zweistündigen Hitzbad im glutheißen Backofen aus, aus dem eine halbe Stunde zuvor das Brot genommen worden war. Andere versuchten die gleiche Wirkung mit einer Schaukel zu erreichen, wobei sie einen Korb im Dachgebälk der Scheune an einen langen Strick befestigten, und darin die Hennen drei Tage lang hin und her bewegten. Das Futter wurde für diese Zeit gestrichen. Der Haushund und auch Kinder des Dorfes waren eifrige Helfer auf dem Kleeacker, wenn die Mäuse mittels Jauche oder Wasser aus ihrem Bau getrieben, patschnaß aus den Löchern kamen, und vom Leben zum Tod befördert wurden. Den Postboten erwartete die Bäuerin mit einem Stamperl Schnaps. Er hatte dafür alle Neuigkeiten aus dem Dorfe brühwarm zu erzählen und seinen Kommentar dazu gegeben. Der Postbote kam ja, weit herum. Den Weg wiesen ihm in früherer Zeit ganz speziell bayerische Wegweiser. Es stand da kein monotones Einheitsschild an den Abzweigungen. Auf einem drei Meter hohen weißblau geringeltem Pfahl thronte ein aus Holz kunstvoll geschnitzter Arm, der mit dem Zeigefinger die Richtung wies. Wenn die herbstlichen Arbeiten auf den Feldern abgeschlossen waren, bestellte der Großvater den Krauthobler. Für die Kinder war dieser Tag ein besonderes Ereignis. Ein Bub hatte die Aufgabe, das Kraut im Zuber mit den Füßen festzutreten. Vorher war eine gründliche Fußwaschung mit Seife und Schrubber notwendig. Doch trotz dieser intensiven Reinigung zeigte sich regelmäßig, daß die Füße nach dem Krauteintreten weit sauberer und reiner geworden waren. Der Bamhackl und sonstiger Grind sind in den Krautsaft eingebettet worden. Erst wenn das Krautfaßl bis oben hin voll war, und sich soviel Saft gebildet hatte, daß es kräftig pantschte und seuferzte, war der Krauttag beendet. Der Gärungsprozeß konnte beginnen, und vierzehn Tage danach war das Kraut genußbereit. Es war schon eine verrückte Zeit, die Zeit der Großväter. In dieser beschaulichen Vergangenheit sieht man heule "die gute alte Zeit". Sie erscheint glorifiziert und romantisch. Doch war sie wirklich so schön und lebenswert? Einer hat den Hof gekriegt, die anderen blieben vielmals Dienstboten, Taglöhner und Hungerleider ihr Leben lang. Das Heiraten blieb vielen versagt, weil für eine Familiengründung das Notwendigste fehlte. Die Nachfahren aus der Zeit der Leibeigenschaft, die Inwohner, Loschileute, Taglöhner und Kleinhäusler, sie alle hatten zum Leben zu wenig und zum Sterben zuviel. Krankheiten und frühes Siechtum nahm man als gottgewolltes Schicksal hin. Oft starben mehr als die Hälfte aller Kinder vor dem Eintritt in die Schule an Schwindsucht und Unterernährung. Die makabere Gleichgültigkeit mancher Eltern, die von dem "schönen reinen Englein" sprachen, das es jetzt gut habe, und keine Not mehr zu leiden brauche, wurde jedoch dem elenden sterben in Verzweiflung und Bitternis nicht gerecht. Zwar gab es mancherorts einen Arzt im Dorfe, aber niemand beanspruchte ihn. Man fürchtete seine Rechnung. Da starb es sich ohne Atzt schon leichter. Höchstens wurde der Dorfbader geholt, der wichtigtuerisch quaksalberte, Hausrezepte verordnete, und nur ganz wenig kostete. Sechs oder acht Sprößlinge pro Familie waren eine geläufige Zahl. Sie erwartete kein Honiglecken. Als späterer Hausl, oder als Kindsdirn war ihr Lebensweg schon vorgezeichnet. Der Vater verdingte sie ab dem 13. Lebensjahr um einen Jahreslohn von 20 oder 30 Mark. Ein dornenreiches Leben begann und viele der armen Würmer wünschten sich oft, sie hätten das Weltenlicht nie erblickt. Eine Lehrstelle in einem Handwerks- betrieb schied aus, weil die Lehrmeister Kostgeld forderten, der Bauer aber Verpflegung und Wohnung gratis gab. Die Kost war karg und einfach. Gestockte und saure Milch, Erdäpfel, Sauerkraut, aufgeschnittenes Brot mit Wasser vermischt, genannt die Brotsuppe, machten in vielen Familien die gewöhnliche Mittags- und Abendmahlzeit aus. An der Kleidung fehlte es noch mehr. Bis zum vierten Lebensjahre trugen die Buben einen Kittel mit einem nackten Hintern darunter, genau wie die Mädchen. Der größere Bruder vererbte ihn jeweils dem Kleineren. Erst ab dem fünften Lebensjahre gab es für die Buben eine dreiviertel lange Hose. In der Hausflöz standen nach Alter und Rang geordnet, ein Dutzend Paar Holzschuhe. Keines durfte mit ihnen in die geheizte Stube. Die Strümpfe trugen auf der Unterseite einen Besatz mit Stoffresten. Das ersparte die Hausschuhe. Das geheizte Zimmer war gleichzeitig Küche, Wohnstube, und Arbeitsraum für verschiedene Tätigkeiten, wie Besenbinden, Holzschuhmachen usw.. Ein Tisch mit einer zweiseitigen Bank und der Herrgottsecke, an der Wand ein Schüsselkorb, eine Geschirrkommode in der hinteren Ecke, eine hölzerne Liege mit Kopfstütze, aus der nachfolgende Generationen das Kanapee entwickelten, bildeten die gesamte Ausstattung. Am Plafond quer über dem Ofen hing eine drei Meter lange hölzerne Stange, auf der man die vom Regen genäßte Kleidung und die Kinderwäsche trocknete. Die Fenster in den Schlafräumen schlossen mangelhaft, und wenn es draußen wachelte, lag beim Aufwachen eine zentimeterhohe Schneewehe auf der Bettdecke. Nur selten bot sich für diese Hungerleider, wie die Reichen sie verächtlich nannnten, Gelegenheit zu ein Paar Mark Verdienst, und notgedrungen lebten viele vom Betteln. Bei diesem Geschäft aber wollte die Familie anonym bleiben. Frühmorgens gingen Mann oder Frau zehn oder fünfzehn Kilometer weit in die Ferne, um einen Bettelpfennig zu erhaschen. Selten gab es einen Löffel voll Schmalz oder ein Ei. Notzeiten erzeugten regelrechte Bettlerinvasionen, und das "Vergelts-Gott tausendfach" sprachen diese Leute innig wie ein Gebet. Natürlich versuchten diese Ärmsten, gelegentlich etwas Kleinvieh zu halten. Das aber erregte den Zorn der Bauern, denn auf nächtlichen Schleichwegen holten sie sich per Schubkaren das Futter aus der Flur. Zahlreiche Prozesse führten die Bauern gegen diese Kleinviehhalter, weil sie die grasigen Feldraine absichelten, die Bauern aber das Gras für ihren eigenen Viehstand beanspruchten. Dies beweisen eine Reihe von Ratsprotokollen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Kreuz und Leid in den Familien verschlimmerten die Menschen oft auch selber. Nicht nur das Geld, auch die Not verdirbt den Charakter. Die Trunksucht und die Leidenschaft mit Karten- und Kegelspiel dieser vom Leben benachteiligten Menschen waren weit verbreitet. Familienväter vertranken das wenige Geld und ließen ihre Familien im Stich. Streitereien, Drohungen und Schläge waren die Folge. Die Kinder verlumpten und gerieten ins Abseits. Die Umwelt nahm kaum Notiz, die Obrigkeit griff selten ein und nannte diesen Zustand selbstverschuldet. Die Geschichte hat es den Armen und Hilflosen noch nie leicht gemacht. Junge Frauen, die uneheliche Kinder gebaren, mußten einige Wochen lang an jedem Sonntag zu Beginn des Hochamtes an der Kirchentüre stehen, und neugierige Blicke und unflätige Reden über sich ergehen lassen. Welch eine Menschenverachtung offenbart solches Tun! Alles ist anders geworden. Vergangenes kehrt nicht zurück. Die heiter - besinnliche Idylle der Väter und Großväter. Ihr Leben und ihre Freuden, aber auch ihre Not und Bedrängnis in einer grausamen Umwelt, sind in eine ferne Vergangenheit gerückt. Das erregende Tempo der neuen Zeit hat sie hinweggefegt.